Dirk Schümer
Der Chronist im Büro
Immer, wenn in den neunziger Jahren ein neuer Band von J.J. Voskuil Romanzyklus Het Bureau erschien, war sein holländisches Publikum in Hochspannung: Plakate an den Mauern von Amsterdam warben für das Werk, in den Medien debattierte man über die Personen hinter den literarischen Gestalten, die besten Köpfe stritten, ob man es hier mit großer Weltliteratur oder langweiliger Chronistik eines Einzelgängers zu tun hatte. Und das Meertens-Institut in Amsterdam, welches sich hinter dem Volkskundeseminar des Romanzyklus verbarg, wurde mit einem Schlag bekannt.
Die ethnologische Beschreibung von Arbeitsräumen, Gebräuchen und Mitarbeitern machte das Beerta-institut – so der Name im Roman – aber auch zur Pilgerstätte der Lächerlichkeit. Johannes Jacobus Voskuil, der seine Arbeitswelt hier nach Art eines altniederländischen Feinmalers nahezu fotorealistisch abschilderte, muss die dreißig Jahre, die er hier hinterm Schreibtisch verbrachte, als nutzlos, absurd, niederschmetternd erlebt haben. Die Identität von Biografie und Werk sowie die Komik, die in der Endlos wiedergekäuten Vergeblichkeit einer bürokratischen Existenz liegt, macht Het Bureau, das trotz einiger Ansätze bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde, zu einem der großen Werke der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.
Voskuil hatte bereits 1963 sein Alter Ego, den depressiven, leutseligen Studenten Maarten Koning, mit ähnlich hyperrealistischer Methodik zur Hauptfigur seines Erstlings Bij nader inzien gemacht. Bis zur Rente folgten dreißig Jahre des Schweigens, in denen der Autor seine Existenz als Forscher des holländischen Bauernglaubens – Fachgebiet: Trolle, Irrlichter, Nachgeburt des Pferdes – diszipliniert und mit regelmäßiger Migräne herunterlebte. Im Romanzyklus hadert Maarten Koning mit der wachsenden Überzeugung, all sein Wirken sei komplett nutzlos, während das Institut gleichzeitig mit immer neuen Angestellten, Forschungsaufträgen, Nebenkräften, Bibliothekaren, Anbauten und Hausmeistern ins Monströse wuchert: Triumph der Bürokratie über das Leben, das – wie in Voskuils Le-
ben – einzig durch die kritisch-arbeitsscheue Ehefrau daheim repräsentiert wird.
Dass Het Bureau, diese ‘Soap-Opera fur Intellektuelle’, mit seiner lakonisch-calvinistischen Sphäre aus immer wiederkehrenden Abläufen, knappen Schreibtischdialogen, dunklen Regentagen, Kaffeekochen und hilarischen Minimalintrigen im Ausland keinen Erfolg hatte, ist – neben dem Umfang von fünftausend Seiten – der Muttersprache des Verfassers geschuldet. Als Amerikaner wäre Voskuil gewiss für den Nobelpreis vorgeschlagen worden, aber als Amerikaner hätte er dieses abgründige, erschütternde und zugleich urkomische Opus magnum aus der Welt der Geisteswissenschaften eben auch nicht schreiben können.
Voskuil hatte außer seiner eigenen Existenz im Maßstab eins zu eins wenig zu erzählen, die endlosen Wanderungen durch Südfrankreich fanden ebenso wenig Nachhall im klaustrophoben Oeuvre wie sein Einsatz für die Tierwelt: In den letzten Jahren brachte er die beachtlichen Erträge der vierhunderttausendmal verkauften Büroromane in seine Stiftung ‘Ferkel in Not’ gegen Massentierhaltung ein.
Lebenslang blieb dieser sanfte Zyniker, der in Den Haag geboren wurde, dann aber bis zum einundachtzigsten Lebensjahr an der Herengracht in Amsterdam wohnte, das Spiegelbild seiner eigenen Romane. Bewusst wählte der krebskranke Sozialist Voskuil, ein außer in Holland nahezu unbekanntes Genie vom Kaliber eines Kafka oder Pessoa, den Tod durch Euthanasie am Tag der Arbeit. Seine Beerdigung hat er im letzten Band von Het Bureau geschildert – nüchterner Abschluss dessen, was das Leben in seiner Bilanz wohl ist: Tausende Seiten eines unfassbar komischen Nichts.